F. Betschon u.a. (Hrsg.): Technikgeschichte aus erster Hand

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Titel
Ingenieure bauen die Schweiz. Technikgeschichte aus erster Hand


Herausgeber
Betschon, Franz; Stefan, Betschon: Jürg, Lindecker; Willy, Schlachter
Erschienen
Zürich 2013: NZZ Libro
Anzahl Seiten
525 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Herbert Bruderer

Technikgeschichte ist in der Geschichtswissenschaft nach wie vor ein Stiefkind, obwohl die Technik im Alltag, in Beruf und Freizeit, allgegenwärtig ist. Das ist ärgerlich, denn die Auseinandersetzung mit den Meisterwerken der Natur- und Ingenieurwissenschaften könnte vielleicht einen (wenn auch) bescheidenen Beitrag zur Nachwuchsförderung leisten. Die Herausgeber möchten vergessene Pionierleistungen und verschwundene Unternehmen wieder in Erinnerung rufen, eine durchaus lobenswerte Absicht. Sie betonen, dass Wohlstand und Wirtschaftskraft der Schweiz auf die Industrie des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgehen. Das Werk will mehr sein als ein Geschichtsbuch. Das Schwergewicht liegt auf der Maschinenindustrie, der Optikindustrie, der Informations- und Kommunikationstechnik, dem Bau von Schienenfahrzeugen und Flugzeugen. Zur Sprache kommt auch die Ausbildung. Am Buch haben über 50 Verfasserinnen und Verfasser und rund 20 Geldgeber mitgewirkt.

Der vorliegende Sammelband versucht, einen Querschnitt durch die verschiedenen Industriezweige zu vermitteln. Das gelingt jedoch nur bedingt. Er schliesst zahlreiche lehrreiche Beiträge ein, etwa über den Bau eines Eisenbahntunnels oder die Entwicklung von Superrechnern. Die Rede ist von Brown Boveri und Sulzer, vermisst werden hingegen Escher-Wyss (z.B. Raddampfer) und Nestlé (Nahrungsmittel). Schade, dass Schweizer Ingenieurleistungen im Ausland (z.B. Brückenbau) kaum gewürdigt werden. Das Buch ist weniger ein wissenschaftliches Werk als eine allgemein verständliche Übersicht. Das Schriftenverzeichnis umfasst bloss rund vier Seiten. Die Auswahl der Wirtschaftsgebiete scheint etwas zufällig und einseitig. Wichtige Bereiche wie z.B. Chemie und Pharma fehlen, obwohl es etwa bei Novartis in Basel ein umfangreiches Archiv gibt. Zudem besteht ein Ungleichgewicht: Der Optikindustrie werden 11 Aufsätze gewidmet, die Uhrenindustrie muss sich mit einem einzigen Bericht begnügen.

Eine Schwäche des Buchs besteht darin, dass viele Beiträge keine Zeitzeugenberichte sind – im Gegensatz zu den Versprechungen in Untertitel, Vorwort und Einführung. Eigenartig sind diesbezüglich auch die unterschiedlichen Untertitel der ersten und der zweiten Ausgabe, die derzeit in Vorbereitung ist: „Technikgeschichte aus erster Hand“ bzw. „technische Pionierleistungen“1. Einer der Herausgeber schreibt über den Bau der Albula- und Berninabahn, der vor über 100 Jahren stattfand. Ein ehemaliger Werbeleiter berichtet über Optikinstrumente, an deren Entwicklung er wohl kaum Anteil hatte. Und ein Wissenschaftsjournalist schildert den Weg von der mechanischen zur elektronischen Uhr: Erfahrungen aus erster Hand? Da das Werk etliche Beiträge enthält, die nicht auf persönlichen Erlebnissen beruhen, hätte man ohne weiteres zusätzliche Industriezweige abdecken können.

In wohltuendem Unterschied zu manchen unpersönlichen Artikeln erzählt dagegen der Testpilot Jean Brunner von seinen Erlebnissen mit dem Düsenflugzeug P-16 der Flug- und Fahrzeugwerke Altenrhein (FFA), ähnlich Urs Meyer über den Textilmaschinenbau beim Rieter-Konzern. Und Anton Gunzinger gibt Einblicke in seinen Superrechner, der sich leider nicht durchsetzte. Spannend ist der Aufsatz von Renzo Simoni über eine grossartige Meisterleistung, den Bau des Gotthard-Basistunnels (weltweit längster Eisenbahntunnel). Persönliche Eindrücke vermittelt auch Roger Lagadec in seinem Artikel über Studer und Revox, desgleichen Peter Josef Wild über die Flüssigkristalle bei der damaligen BBC. Es wäre sinnvoll, im Buch die Zeitzeugenberichte und die Beiträge aus zweiter Hand eindeutig zu kennzeichnen.

Deutlich schlimmer als vermeintliche Lebenserinnerungen sind Unregelmässigkeiten: Fälschungen und Plagiate. Zweifelhaft ist insbesondere, ob der Beitrag „Blick zurück in die Zukunft. Die Contraves als Vorkämpferin der Digitaltechnik“ wirklich von Max Lattmann, dem ehemaligen technischen Direktor der Zürcher Contraves AG, verfasst worden ist. Lattmann verstarb 2011 über 100-jährig und hat nachweislich keine Memoiren geschrieben. Das bestätigt sein Lebenspartner Walter Gross2 (Lattmanns Lebensgefährte von 1971 bis zu dessen Tod), das belegen auch Untersuchungen in Deutschland, so an der Universität Bremen3 . Der mangelhafte Beitrag zur Contraves stammt offensichtlich aus der Feder von Jürg Lindecker, einem der Mitherausgeber des Werks. Er gab in einer schriftlichen Mitteilung vom 29. August 20124 zu, dass er eine Laudatio über Contraves/Lattmann geschrieben hat, welche die Grundlage für den veröffentlichten Zeitzeugenbericht bildet. Es gibt Widersprüche zwischen dem in Lattmanns Doktorarbeit abgedruckten Lebenslauf und dem Text von Lindecker: Laut Dissertation5 hat Lattmann sein Studium an der ETH Zürich unterbrochen, gemäss Lindecker machte Lattmann in Berlin ein Vertiefungsstudium (Buch, S. 423 und 437). Im Artikel ist u.a. die Rede von einer lebenslangen Freundschaft zwischen dem deutschen Computererfinder Konrad Zuse und Max Lattmann, von der weder Lattmanns jahrzehntelanger Lebenspartner Walter Gross noch Horst Zuse, Konrad Zuses ältester Sohn, etwas wissen. Konrad Zuse erwähnt Lattmann in seinen Lebenserinnerungen mit keinem Wort. Auch von den Zuse-Gemälden, die Lattmann erhalten oder gekauft haben soll, fehlt jede Spur. Lindecker behauptet gar, Hermann Göring habe Lattmann– einen ausländischen Studenten – während seiner Studienzeit in Berlin für das Forschungsamt der Luftwaffe, einen Geheimdienst, gewinnen wollen (S. 427).

Unbelegt ist überdies die von Lindecker verbreitete Mär, die ETH Zürich habe über Lattmann von der Zusemaschine Z4 erfahren (S. 432). Dieses Verdienst käme eher Donald Brinkmann zu, der in Zuses Schriften auch verewigt ist. Ins Reich der Fantasie gehört laut dem ungarischen Elektroingenieur Peter Toth auch Lindeckers Äusserung, Toth6 habe „aus seiner Heimat fliehen müssen, weil er beim Aufstand an vorderster Front gegen die Rote Armee gekämpft hatte“ (S. 433). Toth ist der Erbauer des ersten Schweizer Transistorrechners (Cora). Technisch unsinnig sind in diesem Zusammenhang zudem Lindeckers Aussagen über die heissen Transistoren, Aussagen, die gemäss Toth nicht von Lattmann, einem Kenner, stammen können. Der „Zeitzeugenbericht“ zur Contraves enthält überdies Entlehnungen aus Wikipedia7.

In einem weiteren Artikel von Lindecker über die Feinmechanikfirma Paillard SA (Yverdon) finden sich Widersprüche zu den Akten und Protokollen des Archivs der ETH Zürich. Selbst für Fachleute ist es kaum möglich, zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Lindecker erzählt, dass die Geschäftsleitung seinem Vater, ehemals technischer Direktor von Paillard, den Einstieg in die Elektronik verboten hatte (S. 406/407). Dazu hätte man gerne Belege. Denn die ETH hatte gemäss den Archivakten8 von den Firmen Hasler und Paillard einen dreijährigen Forschungsauftrag zur Entwicklung eines Elektronenrechners. Dabei erarbeitete die ETH, wie den Jahresberichten9 zu entnehmen ist, die Grundlagen für den Bau eines Prototyps für eine elektronische Fakturiermaschine.

Sonderbar sind auch Parallelen in den Darstellungen über Eidophor (S. 444) und Paillard (S. 402 im Buch bzw. S. 15 im ungekürzten Aufsatz von Lindecker): John Steinbecks Hermes-Schreibmaschine sowie Marlene Dietrichs Bolexkamera aus Sainte-Croix. Was haben die Produkte von Paillard in diesem Aufsatz zu suchen? Gab es bei der Arbeit über Eidophor fremde Hilfe für den (2012 verstorbenen) 95-jährigen Hugo Thiemann?

Mitherausgeber Stefan Betschon steuert einen Beitrag über die Anfänge der Informatik in der Schweiz bei. Seine Äusserungen zur Frühgeschichte der Rechentechnik und Informatik sind nicht immer auf dem neuesten Stand, aktuelle (erst teilweise veröffentlichte) Ergebnisse zur Zuse-Forschung werden nicht mit einbezogen (vgl. dazu auch das digitale Zuse-Archiv und http://e-collection.library.ethz.ch/). Dass die Herausgeber Lindeckers Fälschung (Veröffentlichung von Lattmanns vermeintlichen Memoiren unter seinem Namen) nicht erkannt haben, ist schwer nachvollziehbar. Peinlich ist es, dass einer der Mitherausgeber, Stefan Betschon, Sachverhalte, die vermutlich von Lindecker erfunden wurden, fast wörtlich und ohne Quellenangabe übernimmt: „Mit der ausdrücklichen Einschränkung, dass die Maschine ausschliesslich für technisch-wissenschaftliche Zwecke benutzt werden dürfe, bewilligte der schweizerische Schulrat schliesslich Ende 1949 einen Kredit von 30’000 Franken zur Miete der Z4“ (S. 399). Eine solche Einschränkung gab es laut dem damaligen Schulratsprotokoll10 nicht, für die Entscheidung war ohnehin nicht der Schulrat zuständig. Die Kosten für die Instandstellung beliefen sich auf 50’000 Franken, die Mietkosten bildeten nur einen Teil davon. Es fällt auch auf, dass Lindecker in seinen Aufsätzen zu Unrecht mehrfach seinen Vater mit ins Spiel bringt (etwa bei der Reise zu Konrad Zuse ins Allgäu, S. 432). Solche Reisen waren in der ersten Nachkriegszeit im Übrigen sehr beschwerlich, dafür waren aufwendige Ein- und Ausreisebewilligungen notwendig.

Die Herausgeber haben den zahlreichen Mitwirkenden, die echte Erfahrungsberichte verfasst haben, und der Geschichtswissenschaft einen zweifelhaften Dienst erwiesen: manche angebliche „Erlebnisberichte“, einen gefälschten „Zeitzeugenbericht“ von Jürg Lindecker zur Contraves AG sowie Urheberrechtsverletzungen durch Jürg Lindecker (Entlehnungen aus der Wikipedia) und Stefan Betschon (Übernahme aus dem ungekürzten Wortlaut der gefälschten Lebenserinnerungen von Lattmann). Das ist umso bedauerlicher, als die sehr abwechslungsreiche Technikgeschichte wesentlich mehr Beachtung verdienen würde und es in der Schweiz kein allgemeines Technikmuseum (wie etwa das Deutsche Museum, München, oder das Science Museum, London) mehr gibt. Das Buch ist unausgewogen, wichtige Industriezweige wie die Chemie und die Pharma fehlen. Befremdend sind auch die Selbstrezensionen11 mehrerer Mitverfasser sowie die eines NZZ-Redaktors in der hauseigenen Zeitung. Positiv: Der Verlag plant eine zweite, überarbeitete Auflage für den Herbst 2014.

1 Die unterschiedlichen Untertitel werden u.a. in der Ankündigung auf Amazon deutlich: http://www.amazon.de/Ingenieure-bauen-die-Schweiz-Pionierleistungen/dp/3038237914 (7.1.2014).
2 Mehrere Telefongespräche zwischen Walter Gross und dem Verfasser dieser Buchbesprechung.
3 Prof. Dr. Hans Dieter Hellige, seit 1993 Sprecher der Fachgruppe 8.2 "Informatik- und Computergeschichte" der deutschen "Gesell¬schaft für Informatik", zahlreiche Mails an den Verfasser, u.a. am 30. September 2013.
4 Mail an den Verfasser. Die Mitteilung ging auch an Stefan Betschon, Mitherausgeber des Buches.
5 Max Lattmann, „Über die Herstellung einer mit Tonfrequenz modulierbaren thermischen Lichtquelle, Buchdruckerei Vogt-Schild A.-G., Solothurn 1939. Online verfügbar unter: http://e-collection.library.ethz.ch/eserv/eth:21934/eth-21934-01.pdf (7.1.2014).
6 Gespräch mit Peter Toth in Herrliberg ZH vom 11. September 2012. Bemerkung: Bekanntgabe der Fehler per Mail am 12. September 2012 an die Herausgeber (also bereits vor der Veröffentlichung des Buchs), Eingangsbestätigung durch J. Lindecker am 13. September 2012.
7 Plagiatbelege von Prof. Dr. Hans Dieter Hellige, Zusendung per Mail vom 15. September 2013.
8 ETH-Bibliothek, Archive, Schweizer Schulrat, Akten, SR 3: 1957, Systematik-Nr. 509.203
9 Ebd.
10 ETH-Bibliothek, Archive, SR2: Schulratsprotokolle 1949, Sitzung Nr. 6 vom 08.10.1949, Traktandum 8. Online verfügbar: http://www.sr.ethbib.ethz.ch/digbib/view?did=c1:209900&p=300=300 (7.1.2014).
11 Fritz Staudacher, Ingenieure bauen die Schweiz, März 2013. In: Swiss Physical Society: http://www.sps.ch/artikel/buecherecke/ingenieure_bauen_die_schweiz (7.1.12014); Lucien F. Trueb, Naturwissenschaftliche Rundschau, Januar 2013; Alois Feusi, Kleine grosse Industrienation. Schweizer Technik- und Wirtschaftsgeschichte, 8.5.2013. In: Neue Zürcher Zeitung: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/kleine-grosse-industrienation-1.18077965, (7.1.2014).

Zitierweise:
Herbert Bruderer: Rezension zu: Franz Betschon, Stefan Betschon, Jürg Lindecker, Willy Schlachter (Hg.): Ingenieure bauen die Schweiz. Technikgeschichte aus erster Hand, Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2013. Zuerst erschienen in: infoclio.ch

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